Der Migrationshintergrund von Jugendlichen scheint für den allgemein- wie berufsbildenden Bildungsverlauf von großer Bedeutung zu sein. Neben dem Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2009, 2010 und 2011 greift auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem Jahresgutachten (2010, S. 164) die Schwierigkeiten junger Menschen beim Zugang in eine Ausbildung auf: Die Ergebnisse sprechen „für eine strukturelle Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung“. Da die Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sehr heterogen ist sowohl hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichte, ihrer schulischen Voraussetzungen und Lebenslagen (Beicht 2011a; Beicht / Granato 2011), aber auch hinsichtlich ihrer geografischen Herkunft, sind die Chancen beim Zugang in Ausbildung zusätzlich nach unterschiedlichen Herkunftsgruppen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu differenzieren (vgl. Kapitel A3.1; Beicht 2011a; Eberhard / Ulrich 2011; Ulrich 2011; Diehl / Friedrich / Hall 2009). Um die uneinheitliche Definition dieser Zielgruppe und den Begriff „Migrationshintergrund“, der als sozialwissenschaftliches Konstrukt zu verstehen ist, gibt es eine breite Diskussion.
E Migrationshintergrund
Das Konstrukt „Migrationshintergrund“ wird in sehr unterschiedlicher Weise operationalisiert. Der Blick auf aktuelle Erhebungen und Studien zeigt, dass für die Definition des Begriffs verschiedene Merkmale herangezogen werden: In der empirischen Berufsbildungsforschung des BIBB sind dies meist die aktuelle Staatsangehörigkeit und die Muttersprache (bzw. die als erste erlernte / -n Sprache / -n), teilweise auch das Geburtsland und in Deutschland verbrachte Zeiten. Studien, die sich auf den Mikrozensus stützen, können auf die Merkmale Staatsangehörigkeit, Einbürgerung, Geburtsland und auf entsprechende Angaben zu den Eltern zurückgreifen. Außerdem wird im Mikrozensus zwischen Personen mit eigener Migrationserfahrung (Ausländer, Deutsche [Spät-]Aussiedler und Eingebürgerte) sowie Personen ohne eigene Migrationserfahrung (Ausländer der 2. und 3. Generation, Deutsche, d. h. Eingebürgerte, Deutsche mit mindestens einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil) unterschieden.
Unterschiedliche Definitionen führen nicht nur zu quantitativen Unterschieden der jeweils als Personen mit Migrationshintergrund bestimmten Gruppe, sondern können auch qualitative Konsequenzen nach sich ziehen, wenn man zu unterschiedlichen Aussagen, z. B. hinsichtlich des Bildungserfolgs, kommt. Die Offenlegung der für die Definition von Migrationshintergrund jeweils verwendeten Kriterien und die Begründung ihrer Auswahl ist deswegen zwingend erforderlich (vgl. Settelmeyer / Erbe 2010; Statistisches Bundesamt 2010).
Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung ist gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund oft besonders schwierig und langwierig (s. u.). Die Ausbildungsanfängerquote ausländischer Jugendlicher war 2010 mit 29,5 % fast nur halb so hoch wie die der deutschen Jugendlichen (57,8 %). Weitere Unterschiede zeigen sich bei der Differenzierung nach Geschlecht. So betrug die Ausbildungsanfängerquote junger Frauen ausländischer Nationalität 26,8 %, die junger Männer ausländischer Nationalität 32,1 % (vgl. Tabelle A4.5-4). Die Ausbildungsanfängerquote deutscher Frauen lag 2010 mit 49,0 % rund 20 Prozentpunkte höher als die ausländischer Frauen, die der männlichen deutschen Jugendlichen mit 66,1 % sogar rund 30 Prozentpunkte über derjenigen männlicher Jugendlicher ausländischer Nationalität (vgl. Kapitel A4.5).
Berechnet wird die Ausbildungsanfängerquote auf Basis der Berufsbildungsstatistik, die über die Staatsangehörigkeit einen Migrationshintergrund identifiziert (vgl. Kapitel A4.5). Das bedeutet, dass sich die Aussagen zur Teilhabe junger Menschen mit Migrationshintergrund an beruflicher Ausbildung nur auf die Teilgruppe der Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit beziehen. Auf die Frage, wie es zu den oben genannten Unterschieden in der Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund kommt, können die amtlichen Statistiken (z. B. Berufsbildungsstatistik, Schulstatistik, integrierte Ausbildungsberichterstattung, vgl. Kapitel A6) keine Antworten geben. Zur Untersuchung der Ausbildungschancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund muss deshalb auf Stichprobenerhebungen zurückgegriffen werden. Daher werden im Folgenden vorrangig zentrale Ergebnisse des BIBB-Forschungsprojekts „Ausbildungschancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ zu den Übergangsprozessen und Einmündungschancen junger Menschen mit Migrationshintergrund in eine berufliche Ausbildung dargestellt (Granato u. a. 2011). Ziel war es, auf der Grundlage von Stichprobenuntersuchungen des BIBB die Chancen von Jugendlichen beim Zugang in eine berufliche Ausbildung zu untersuchen.
Junge Frauen und Männer mit Migrationshintergrund haben nach Beendigung der allgemeinbildenden Schule ein ebenso hohes Interesse an einer Berufsausbildung wie junge Frauen und Männer ohne Migrationshintergrund (BIBB-Datenreport 2011, Kapitel A3.1; Beicht / Granato 2010; Diehl / Friedrich / Hall 2009). 70 % der Schulabgänger / -innen wollten, so die Ergebnisse der BIBB-Schulabgängerbefragung 2010, im Ausbildungsjahr 2010 / 11 oder später eine duale Ausbildung beginnen, wobei der Anteil der Ausbildungsinteressierten unter den Absolvent / -innen mit Migrationshintergrund mit 78 % höher ausfiel als unter den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (68 %) (BIBB-Datenreport 2011, Kapitel A3.1).172
Ergebnisse der BIBB-Übergangsstudie 2006 und der BA / BIBB-Bewerberbefragung 2010 zeigen, dass es bei den angewandten Bewerbungsstrategien im Rahmen der Ausbildungsplatzsuche keine wesentlichen Unterschiede zwischen Jugendlichen bzw. jungen Frauen und Männern mit und ohne Migrationshintergrund gibt (Beicht 2011a; Beicht / Granato 2010). Dennoch zeigen sich starke Unterschiede bei den Übergangsprozessen und Einmündungschancen junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Schulabgänger / -innen mit Migrationshintergrund besuchen nach Ende der Schulzeit mit 38 % häufiger eine Bildungsmaßnahme im Übergangssystem als Jugendliche ohne Migrationshintergrund (31 %; Beicht / Granato 2011). Jugendliche mit Migrationshintergrund, die eine Maßnahme oder einen Bildungsgang im Übergangssystem besuchen, nutzen diesen genauso oft wie diejenigen ohne Migrationshintergrund, um einen (weiterführenden) Schulabschluss zu erreichen. Häufiger als diese erreichen sie dabei weiterführende Schulabschlüsse. Dennoch gelingt ihnen nach Maßnahmenende der Übergang in die Berufsausbildung wesentlich seltener: Ein Jahr nach Besuch der ersten Maßnahme sind 47 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die eine Ausbildung anstrebten, in eine betriebliche Lehre eingemündet gegenüber 60 % derjenigen ohne Migrationshintergrund (Beicht / Granato 2011). Selbst unter Berücksichtigung zentraler Einflussgrößen wie der sozialen Herkunft oder der Bildungsvoraussetzungen sind ihre Aussichten geringer: Sie haben mit den gleichen schulischen und familiären Voraussetzungen, auch wenn sie die gleiche Art von Übergangsmaßnahme besuchen und dort den gleichen Schulabschluss erwerben, geringere Chancen als Nichtmigranten und Nichtmigrantinnen, nach Beendigung des Bildungsgangs (rasch) in eine vollqualifizierende Ausbildung einzumünden (Beicht 2009).173 Häufiger durchlaufen junge Menschen mit Migrationshintergrund prekäre Übergangsprozesse (Beicht / Granato 2009, 2011).
Jugendliche mit Migrationshintergrund münden sowohl seltener in eine betriebliche als auch seltener in alle anderen Formen beruflicher Ausbildung ein als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.174 Selbst unter Berücksichtigung der schulischen Voraussetzungen, bemessen an den Schulabschlüssen sowie der Notendurchschnitte auf dem Abgangszeugnis, sind die Einmündungschancen von Schulabgängern und Schulabgängerinnen mit Migrationshintergrund in eine berufliche Ausbildung geringer als die der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund (Beicht / Granato 2009, 2010; Diehl / Friedrich / Hall 2009). Ein Jahr nach Ende der Schulzeit sind, so Ergebnisse der BIBB-Übergangsstudie 2006, 55 % der Realschulabsolventen und -absolventinnen mit Migrationshintergrund, die eine berufliche Ausbildung anstrebten, und 74 % derjenigen ohne Migrationshintergrund in eine vollqualifizierende Ausbildung eingemündet (Beicht / Granato 2009). Der Übergang Schule – Ausbildung wird zwar durch die schlechteren schulischen Voraussetzungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund erschwert, diese reichen aber nicht zur vollständigen Erklärung ihrer geringeren Aussichten auf einen Ausbildungsplatz aus. Dies gilt auch, wenn als Indikator die kognitive oder schulische Leistungsfähigkeit von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund herangezogen wird (Kohlrausch 2011; Seeber 2011; Imdorf 2005).
Neben der schulischen Vorbildung wirken sich familiäre sowie andere individuelle Ressourcen auf die Einmündung von Jugendlichen in eine berufliche Ausbildung aus. In Regressionsmodellen wurden daher neben den schulischen Voraussetzungen eine Reihe weiterer Einflussfaktoren berücksichtigt, die sich mehrheitlich als relevant (statistisch signifikant) für den Einmündungserfolg in eine Ausbildung, d. h. förderlich oder hinderlich für die Einmündung in eine betriebliche oder vollqualifizierende Ausbildung, erweisen.175 Die größeren Risiken bzw. geringeren Chancen von Schulabsolventen / -absolventinnen mit Migrationshintergrund beim Zugang in Ausbildung erklären sie dennoch nicht vollständig. Junge Frauen und Männer mit Migrationshintergrund verfügen zwar häufiger als junge Nichtmigranten und Nichtmigrantinnen über einen Hauptschulabschluss, und ihre Schulnoten fallen im Durchschnitt etwas schlechter aus. Ihre Eltern haben seltener einen Berufsabschluss, und sie selbst sind seltener in Vereinen oder bei der Feuerwehr eingebunden. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung all dieser Faktoren bleibt dennoch ein eigenständiger Einfluss des Migrationshintergrunds bestehen (Beicht / Granato 2010; vgl. auch Diehl / Friedrich / Hall 2009). Das heißt, junge Frauen und Männer mit Migrationshintergrund haben selbst bei gleichen Voraussetzungen in Bezug auf Schulabschluss, Schulnoten, soziale Herkunft und soziale Einbindung sowie die einbezogenen ausbildungsmarktrelevanten Merkmale schlechtere Chancen, einen vollqualifizierenden Ausbildungsplatz zu erhalten, als junge Frauen und Männer ohne Migrationshintergrund (Beicht / Granato 2010). Dies gilt auch, wenn die regionalen Unterschiede im Ausbildungsangebot, wie z. B. der Mangel an vollqualifizierenden Ausbildungsplätzen im Westen, der sich bei Bewerbern / Bewerberinnen mit Migrationshintergrund, die überwiegend hier leben, deutlich chancenmindernd auf ihre Zugangschancen in eine betriebliche Ausbildung auswirkt, in den Analysen mitberücksichtigt werden (Beicht 2011a; Eberhard / Ulrich 2011; Ulrich 2011). Die Schwierigkeiten bei der Einmündung in eine berufliche Ausbildung betreffen nicht nur die Zeit unmittelbar nach Ende der Schulzeit, sondern erstrecken sich auf einen Zeitraum von 3 Jahren (Beicht / Granato 2010).
Zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Herkunftsgruppen bestehen erhebliche Unterschiede bei den Zugangschancen in eine berufliche Ausbildung, die sich auch unter Kontrolle der schulischen Bildungsvoraussetzungen wie anderer Einflussfaktoren nicht vollständig erklären lassen. Dies betrifft verschiedene Migrantengruppen (Beicht 2011a; Eberhard / Ulrich 2011; Ulrich 2011; Diehl / Friedrich / Hall 2009). Insbesondere Bewerber / -innen türkisch-arabischer Herkunft haben, so Ergebnisse auf der Grundlage der BA / BIBB-Bewerberbefragung 2008 und 2010, geringere Aussichten auf eine betriebliche Ausbildung.176 Während ein Hauptschulabsolvent / -absolventin ohne Migrationshintergrund mit befriedigenden Deutsch- und Mathematiknoten, der mit seinen Eltern alle wichtigen Fragen der Berufswahl und Ausbildungsplatzsuche besprochen hat und in einer Region mit einer mittleren Ausbildungsmarktlage lebt, zu 36 % in eine betriebliche Ausbildung einmündet, trifft dies auf einen Hauptschulabsolventen / -absolventin türkischarabischer Herkunft mit den gleichen personalen und regionalen Voraussetzungen nur zu 29 % zu. Auch mit einem mittleren Abschluss und sonst gleichen Voraussetzungen hat ein Bewerber türkisch-arabischer Herkunft mit 29 % die gleichen und keine höheren Chancen, in eine betriebliche Ausbildung einzumünden (vgl. Kapitel A3.1; Beicht 2011a; Eberhard / Ulrich 2011; Ulrich 2011).
Die Einmündungsquote ausbildungsinteressierter Schulabgänger / -innen mit Migrationshintergrund in eine duale Ausbildung ist 2010 trotz einer Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt im Vergleich zu 2006, einem sehr schwierigen Jahr auf dem Ausbildungsmarkt, nicht gestiegen, sondern gesunken. Die Differenz zwischen der Einmündungsquote von Schulabgänger / -innen mit und ohne Migrationshintergrund ist 2010 im Vergleich zu 2006 deutlich größer (BIBB-Datenreport 2011, Kapitel A3.1). Bei einem sich entspannenden Ausbildungsmarkt lässt sich die Schlechterstellung selbst offiziell ausbildungsreifer Bewerber / -innen mit Migrationshintergrund beim Zugang in betriebliche Ausbildung im Vergleich zu denjenigen ohne Migrationshintergrund unter Berücksichtigung zentraler Einflussgrößen auf der Grundlage der BA / BIBB-Bewerberbefragung 2010 nachweisen (Beicht 2011a; Ulrich 2011).177
Die vorliegenden Ergebnisse zu den schwierigen Übergangsprozessen und geringeren Einmündungschancen junger Menschen mit Migrationshintergrund in eine berufliche Ausbildung machen deutlich, dass sich ein Migrationshintergrund auch bei Berücksichtigung der genannten Faktoren negativ auf die Einmündungschancen in berufliche Ausbildung auswirkt. Dies deutet darauf hin, dass über die berücksichtigten Faktoren hinaus weitere Einflussgrößen wirksam sein könnten oder sich schon allein das Vorhandensein eines Migrationshintergrunds bei der Ausbildungsplatzsuche nachteilig auswirkt (Beicht / Granato 2010).
Die Forschung konnte die prekäre Situation junger Migranten und Migrantinnen bei den Übergängen und der Einmündung in Ausbildung belegen.178 Auch für die ungünstigere Platzierung im Ausbildungssystem der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, denen es gelingt, einen Ausbildungsplatz zu finden, liegen inzwischen unter Einbeziehung zentraler Einflussgrößen empirische fundierte Hinweise vor.179 Ein weiterer Anhaltspunkt hierfür ist die stärkere Konzentration von Jugendlichen ausländischer Nationalität in 10 Ausbildungsberufen (ausländische Auszubildende 46 %, deutsche Auszubildende 36 %).180
In der Frage des Übergangs, der Einmündung und Platzierung in Ausbildung wurde die Bedeutung zentraler Faktoren – der individuellen, familiären und sozialen Ressourcen sowie der regionalen Ausbildungsmarktsituation – geprüft, die zwar größtenteils einen Einfluss haben, dennoch aber nicht abschließend die Schlechterstellung junger Menschen mit Migrationshintergrund bei Übergang und Einmündung in Ausbildung erklären können. Es erweist sich somit als einfacher, die geringeren Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Übergang und bei der Einmündung in eine Ausbildung empirisch zu belegen, als die Ursachen für diese Phänomene herauszufinden. Zwar wurde der Weg von individuellen zu institutionellen Erklärungsansätzen beschritten, die Wende aber nicht stringent vollzogen: Noch immer existieren nur wenige Forschungsarbeiten zu den institutionellen Rahmenbedingungen des Ausbildungssystems, die den Zugang von Jugendlichen (mit Migrationshintergrund) in Ausbildung beeinflussen. In der Frage des institutionellen Gefüges des Ausbildungssystems wurden regionale Differenzen beim Ausbildungsangebot zwar gelegentlich berücksichtigt,181 ausbildungsstättenspezifische Selektionsmechanismen jedoch nur punktuell (Imdorf 2010).
(Mona Granato, Christine Schwerin, Ursula Weiß)