Wichtiger Innovationsbereich in der Berufsbildung ist die Förderung von Transparenz, Durchlässigkeit und Anerkennung auf und zwischen den einzelnen Ebenen und Teilbereichen des (Berufs-)Bildungssystems. Im Rahmen regional begrenzter Modellversuche und Pilotprojekte wird dazu erprobt, mithilfe welcher Instrumente und Verfahren, mit welchen Akteuren und unter welchen Rahmenbedingungen diese bildungspolitisch intendierte Aufgabenstellung zu bewältigen ist. Diese seit vielen Jahren diskutierte Zielsetzung zur Gestaltung des Bildungssystems wirkt sich auf die Beziehungen zwischen den relevanten Institutionen und Akteuren und letztlich auch auf die Lehr-/Lernprozesse aus. Zudem sind Transparenz, Durchlässigkeit und Anrechnung wichtige Leitthemen der europäischen (Berufs-)Bildungspolitik und manifestieren sich in Instrumenten wie dem Europäischen und Nationalen Qualifikationsrahmen und in Leistungspunktesystemen. Die beiden im Folgenden dargestellten Pilotinitiativen ANKOM und DECVET sind Innovations- oder gar Reforminstrumente auf europäischer und nationaler Ebene, die erhebliche Auswirkungen auf das Berufsbildungssystem und etablierte Strukturen haben können. Während ANKOM sich den Themen Transparenz, Durchlässigkeit und Anrechnung im Übergangsbereich Berufsbildung – Hochschule widmet, zielt DECVET auf den Übergang innerhalb der Teilbereiche des Berufsbildungssystems ab. Beide Initiativen stehen in einem konzeptionellen und inhaltlichen Zusammenhang.
Im Rahmen von ANKOM wurden mit wissenschaftlicher Begleitung bis Mitte 2008 in elf Vorhaben Verfahren der Anrechnung beruflich erworbener Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge entwickelt.349 Grundlage waren die nach § 53 BBiG geregelten Fortbildungen, gleichgestellte Abschlüsse der Fachschulen auf der Grundlage der Rahmenvereinbarung über Fachschulen und landesrechtlich geregelte Aufstiegsfortbildungen der Gesundheitsberufe sowie jeweils fachlich komplementäre akkreditierte Bachelorstudiengänge. Die Pilotprojekte kamen aus den hochschulischen Fachdisziplinen Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Informationstechnologien, Ingenieurwissenschaften sowie Sozialwesen und Wirtschaftswissenschaften. Beteiligt waren 3 Technische Universitäten, 4 Fachhochschulen und 5 Universitäten aus 7 Bundesländern. Aufseiten der beruflichen Bildung waren gewerblich-technische, informationstechnologische und kaufmännische Fortbildungen, Fortbildungen der Gesundheitsfachberufe und die zur Erzieherin / zum Erzieher vertreten.
Ziel war, Anrechnungsmodelle zu entwickeln und damit die Anrechnungspotenziale zwischen beruflicher Fortbildung und akkreditierten Bachelorstudiengängen zu identifizieren. Es sollten primär pauschale Anrechnungsmodelle entwickelt werden. Die Stärke des pauschalen Verfahrens liegt darin, für die Absolventen der beruflichen Bildung neue und berechenbare Übergänge in die Hochschule zu bahnen. Sie geben den Absolventinnen und Absolventen der Fortbildung die Sicherheit, dass der anvisierte Studiengang an bereits erworbene Kompetenzen anschließt und dass sie eine ausgewiesene Zahl an Leistungspunkten gutgeschrieben bekommen. Es bedarf keiner individuellen Prüfung, sondern nur der Antragstellung auf Anrechnung beim Prüfungsamt.
Der Aufwand der Identifizierung des Anrechnungspotenzials ist hoch, und die Äquivalenzfeststellung von Lernergebnissen aus unterschiedlichen Aneignungskontexten hat sich als komplex herausgestellt. Die Entwicklung von pauschalen Verfahren ist deshalb vor allem für Bildungsgänge mit vielen Fortbildungsabsolventen zu empfehlen. Trotz der Heterogenität der Bildungskontexte wurde gezeigt, dass es Schnittmengen an gleichwertigen Lernergebnissen gibt. So sind beruflich erworbene Qualifikationen in den Hochschulbereich systematisch anrechenbar. Geschaffen wurde damit eine wichtige Grundlage für lebenslanges Lernen und für die kontinuierliche Entwicklung von Bildungsbiografien. Durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure aus den Bereichen Hochschule und berufliche Bildung (Modulverantwortliche, Studiengangkoordinator / -innen, Fachbereichsleitungen, Prüfungsausschüsse der Studiengänge, Hochschulleitungen, Weiterbildungsträger, Fachschulen, Kammern, Prüfungsausschüsse der beruflichen Bildung) wurde eine Grundlage für Transparenz und mehr Effizienz beim Übergang von einem Bildungssektor in einen anderen geschaffen. Gleichzeitig wurden Kommunikation und Austausch zwischen den Bildungsbereichen und den zahlreichen beteiligten Organisationen gefördert, sodass über die Projektförderung hinaus über neue Formen der Zusammenarbeit und gemeinsame Bildungsangebote nachgedacht wird.
Von der wissenschaftlichen Begleitung wurde ein „Leitfragenkatalog zur Planung und Implementierung von Anrechnungsverfahren“ sowie eine „Leitlinie für die Qualitätssicherung von Verfahren zur Anrechnung beruflicher und außerhochschulisch erworbener Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge“ entwickelt. Die Anrechnungsleitlinie dient der Entwicklung von Transparenz für alle Beteiligten (beruflich Qualifizierte, die sich für ein Studium interessieren, Anbieter der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Hochschulen, Ministerien, Akkreditierungsagenturen etc.), der Förderung der Vertrauensbildung zwischen allen Beteiligten sowie der Nachvollziehbarkeit der Äquivalenzfeststellungen. Hinsichtlich der Übertragbarkeit ist zwischen entwickelten Verfahren und erzielten Ergebnisse, zu unterscheiden. Während der Einsatz der entwickelten Verfahren generell möglich ist, können die Ergebnisse nur dann generalisiert werden, wenn die Studiengänge vergleichbare Module mit gleichwertigen Lernergebnissen haben. Ist dies nicht der Fall, so ist eine erneute Bestimmung von Kompetenzäquivalenzen für den Studiengang erforderlich.
Gegenwärtig arbeiten zahlreiche Institutionen der beruflichen und hochschulischen Bildung an der Umsetzung von Anrechnungsverfahren. Sie werden hierbei von der wissenschaftlichen Begleitung unterstützt. Entwickelt werden Arbeitsmaterialien, die für die praktische Arbeit der an Anrechnung beteiligten Institutionen verwendet werden können. Unterstützt werden Netzwerke, in denen Bildungskooperationen zwischen Wirtschaft und Hochschulen bestehen, sowie Personalverantwortliche von Betrieben, die hochschulische Weiterbildung in ihre Personalentwicklung einbeziehen. Auf formaler Ebene wurden von der hochschulischen Bildung mittlerweile die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um Anrechnung in die Prüfungsordnungen der Studiengänge einbringen zu können. Zu nennen sind
- zwei Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (2002 und 2008), die die Grundlagen für die Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen regeln,
- die Berücksichtigung von Anrechnung außerhochschulisch erworbener Kompetenzen im Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse,
- die Aufnahme von Anrechnung in die ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Entwicklung von gestuften Studiengängen.
Alle Hochschulgesetze der Länder sehen Regelungen zur Anrechnung und / oder für Einstufungsprüfungen vor.
Die Pilotinitiative DECVET hat zum Ziel, in 10 betriebspraktisch ausgerichteten Pilotprojekten Modelle für ein Leistungspunktesystems, zur Erfassung, Übertragung und Anrechnung von Lernergebnissen und Kompetenzen von einem Teilbereich des beruflichen Bildungssystems in einen anderen zu entwickeln und zu erproben. Über transparente und transferierbare Anrechnungsmodelle soll die vertikale und die horizontale Durchlässigkeit zwischen den Subsystemen beruflicher Bildung erhöht und damit die Planungsmöglichkeiten und Umsetzungschancen für individuelle Qualifizierungs- und Karrierewege im Kontext lebenslangen Lernens verbessert werden. Darüber hinaus werden von derartigen Anrechnungsmodellen positive Impulse für eine bessere Verknüpfung von Lernformen und intensivere Kooperationen der Bildungsinstitutionen erwartet. Wissenschaftlich begleitet wird die Initiative von einem Konsortium aus der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Lehrstuhl für Berufspädagogik), der Friedrich-Schiller- Universität Jena (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik) und dem BIBB. Beraten wird die Gesamtinitiative von einem Beirat, in dem Beauftragte des Bundes, der Länder und der Sozialpartner vertreten sind. Darüber hinaus wurde in jedem Projekt eine Steuerungsgruppe gebildet, die die Projektarbeiten unterstützt. Die Steuerungsgruppen setzten sich u. a. zusammen aus Vertretern und Vertreterinnen der jeweiligen Länder, der regionalen Kammern, Schulen und Betrieben, der Sozialpartner und der Berufsverbände.
In den 10 Pilotprojekten, die 2008 ihre Arbeit auf nahmen, wurden bisher branchenspezifische Modelle und Verfahren zur Bestimmung, Bewertung und Anrechnung von Lernergebnissen und Kompetenzen für folgende vier Schnittstellen des deutschen Berufsbildungssystems entwickelt:
- zwischen Berufsausbildungsvorbereitung und dualer Ausbildung,
- innerhalb der dualen Berufsausbildung an der Schnittstelle gemeinsamer berufsübergreifender Qualifikationen in einem Berufsfeld,
- zwischen dualer und vollzeitschulischer Berufsausbildung und
- zwischen dualer Berufsausbildung und beruflicher Fortbildung nach §§ 53 und 54 BBiG.
Die Verfahren und Modelle werden zurzeit mit Probandengruppen in unterschiedlichen Bildungsinstitutionen, Schulen und Betrieben erprobt. Für die Entwicklung der Anrechnungsmodelle wurde den Projekten die Vorgabe gemacht, sich an zentralen Konstruktionskriterien des „European Credit System for Vocational Education and Training“ (ECVET) zu orientieren. Während ECVET primär im europäischen Raum die grenzüberschreitende Mobilität und Durchlässigkeit steigern soll, untersucht die Pilot initiative DECVET, inwieweit sich die ECVETPrinzi pien für die Entwicklung und Implementierung durchlässigkeitsfördernder Instrumente im nationalen Berufsbildungssystem reformorientiert nutzen lassen. Die für die DECVET-Anrechnungsmodelle maßgebenden Schritte sind:
- Berufliche Qualifikationen werden unabhängig von Institutionen und Lernkontexten, in denen sie erworben wurden, ergebnisorientiert beschrieben.
- Zusammengefasst werden die Lernergebnisse in Units (= Lerneinheiten im Sinne von „Einheiten von Gelerntem“), die Teile einer Qualifikation (Beruf) darstellen und zusammen eine Gesamtqualifikation abbilden.
- Units werden Leistungspunkten zugeordnet, die ihr Verhältnis untereinander als auch zur Gesamtqualifikation quantitativ gewichten.
Diesen Anrechnungsmodellen entsprechend sollen die Zu- und Übergänge in den Subsystemen der Berufsbildung nicht mehr primär an formale Bildungs abschlüsse und Zertifikate gekoppelt sein, sondern über die Feststellung vorhandener Lernergebnisse und Kompetenzen gestaltet werden. Die Entwicklung der schnittstellenspezifischen Anrechnungsmodelle erfolgte in allen Projekten nach einem einheitlichen Arbeitsprogramm:
In einem ersten Schritt wurden Lerneinheiten definiert, die Teile der Gesamtqualifikation eines Berufes abbilden. Den Referenzrahmen für die Beschreibung von Units bilden in der Regel die vorgegebenen Ordnungsmittel sowie die betrieblichen Handlungs- und Kompetenzanforderungen. Inhaltlich bestimmt werden die Lerneinheiten überwiegend durch berufstypische Handlungsfelder und Aufträge, einsatzgebietsübliche Arbeits- und Geschäftsprozesse und komplexe Arbeitssituationen, die vollständige Arbeitshandlungen abbilden. Auf der Basis dieser Anforderungen werden unter Einbeziehung der Vorgaben der Ordnungsmittel die für die Bewältigung dieser berufstypischen Arbeiten erforderlichen Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse beschrieben. Für die Lerneinheiten ist in der Regel eine anforderungs- und komplexitätssteigernde Anschluss- und Aufbaustruktur ausgewiesen.
Im zweiten Schritt wurden Verfahren, Erfassungsinstrumente und Prüfungsformen entwickelt bzw. angepasst und kombiniert, die es erlauben, die in den Units als Lernergebnisse beschriebenen Kompetenzen zu überprüfen und zu bewerten. Kriterien für die Entwicklung der im Einzelnen sehr unterschiedlich ausgeformten Prüfungsansätze waren u. a. der Kompetenzbezug der Prüfungsinstrumente, Ausführungs-, Handlungs- und Performanzorientierung der Prüfung sowie Validität des Prüfungsverfahrens. Die zu erprobenden Prüfungsmethoden und -instrumente umfassen u. a. handlungsorientierte Situationsaufgaben im beruflichen Tätigkeitsfeld, Betriebsaufträge, Projektaufgaben mit Präsentation und Fachgespräch, Simulationsaufgaben sowie Kenntnistests. Zur Sicherung der Umsetzbarkeit der Prüfungsansätze waren zudem Kriterien der Verfahrensökonomie und Prüfungskompetenz zu berücksichtigen. Da die auf Anrechnungen orientierten Kompetenzprüfungsverfahren an das Prüfungspersonal neue Anforderungen stellen, entwickelten die Pilotprojekte Qualifizierungskonzepte, die nach Auswertung ihrer Erprobung zu transferierbaren Qualifizierungsleitfäden weiterentwickelt werden.
Im dritten Schritt wurden Leistungspunkte festgelegt, die der Gewichtung der Lerneinheiten untereinander sowie im Verhältnis zur Gesamtqualifikation entsprechen und für die Anrechnung in weiterführenden Qualifizierungswegen anschlussfähig sind.
Während in den Schritten 1 bis 3 die Voraussetzungen für Anerkennungen geschaffen wurden, geht es in der derzeitigen Arbeitsphase um die Ausgestaltung und Erprobung von an die Berufsbildungspraxis angepassten, pragmatischen und akzeptanzfähigen Anrechnungsverfahren. Dabei sind u. a. folgende Fragen zu klären: Wie wird ein Anrechnungsverfahren ausgelöst? Von welchen Akteuren / Institutionen wird das Verfahren aktiv gestaltet und verantwortet? Wer erfasst die Lernergebnisse, wer bewertet und zertifiziert sie, wer erkennt an? Bei der Gestaltung und Erprobung von Anrechnungsverfahren müssen alle Akteure der beruflichen Bildungspraxis einbezogen werden. Der aktive Einbezug der Akteure in die Steuerkreise der Projekte wirkt unterstützend. Eine zentrale Funktion für die Umsetzung von Anrechnungsverfahren erfüllen hierbei die Kammern. In einigen Projekten konnten solche Beteiligungen der Kammern für die Erprobungsphase der Anrechnungsmodelle bereits vereinbart werden. Erprobungsergebnisse zur Umsetzbarkeit, Effizienz und Funktionalität der entwickelten Anrechnungsmodelle werden 2011 vorliegen. Auf der Basis der Erprobungsergebnisse wird zu prüfen sein, ob und inwieweit sich die nach Schnittstellen und Branchen differenzierten Anrechnungsmodelle für das Gesamtsystem beruflicher Bildung generalisieren und standardisieren lassen oder ob aufeinander abgestimmte kontext- resp. schnittstellenspezifische Anrechnungsvarianten die Durchlässigkeit im Gesamtsystem effizienter fördern.
Beide Initiativen illustrieren die Komplexität der erprobten Innovationsprozesse, zugleich aber auch die Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von mehr Anrechnung, Durchlässigkeit und Transparenz.
(Andreas Diettrich, Walburga K. Freitag, Egon Meerten)