Für die Europäische Union war das Arbeitsprogramm „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ für die zurückliegende Dekade Grundlage der gemeinsamen Politik (vgl. Rat der Europäischen Union 2002). Dazu gehörte und gehört die regelmäßige Überwachung der Leistungen und Fortschritte in Bezug auf gemeinsame Ziele, um Stärken und Schwächen in den Systemen zu erkennen und Hinweise für die künftige Strategie zu gewinnen. Mit der Etablierung der Lissabon-Strategie wurden erstmals Indikatoren und Benchmarks vereinbart, um die Fortschritte bei der Erreichung der damit gesetzten Ziele zu beobachten und zu bewerten, Beispiele guter Praxis zu identifizieren, die sich eventuell übertragen lassen, und Leistungen der EU mit Leistungen von Drittländern (z. B. USA und Japan) zu vergleichen. Der Rat und die Kommission veröffentlichen alle zwei Jahre einen gemeinsamen Bericht über die Fortschritte bei der Umsetzung der gemeinsamen Ziele.
Das Arbeitsprogramm 2010 enthielt 3 strategische Ziele: „Höhere Qualität und verbesserte Wirksamkeit der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in der europäischen Union“, „Leichterer Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung für alle“, „Öffnung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung gegenüber der Welt“. Diese wurden in 13 Teilziele untergliedert, denen zunächst 35 Indikatoren zugeordnet waren. Ihre Zahl wurde später auf 16 reduziert. Inhaltlich beziehen sich die 16 Indikatoren auf folgende Aspekte: Qualifizierung des Bildungspersonals, Erwerb von Grundfähigkeiten und IKT-Kompetenzen, Studium von MINTFächern, Investitionen in Humankapital, Teilnahme und Abschlüsse bezogen auf Sekundarstufe I und II, Weiterbildung und Hochschulen sowie Förderung von Entrepreneurship, Fremdsprachen und Mobilität. Nur für 5 der insgesamt 13 definierten Teilziele wurden Benchmarks festgelegt, die von den Mitgliedstaaten insgesamt erreicht werden sollten. Diese sind: Steigerung der Abschlüsse in den MINT-Fächern, Hebung der Grundfertigkeiten im Lesen, Reduktion des frühen Schulabgangs, Steigerung der Abschlüsse der Sekundarstufe II und Teilnahme am Lebenslangen Lernen.
Die beiden letztgenannten Benchmarks haben unmittelbare Relevanz für die Berufsbildung: Zum einen sollten mindestens 85 % der 20- bis 24-Jährigen die Sekundarstufe II abgeschlossen haben. Deutschland hat diese Benchmark nicht nur weit verfehlt, sondern rangiert sogar unterhalb des EU-Durchschnitts. Während der Durchschnittswert von 2000 auf 2008 von 76,6 % auf 78,5 % anstieg, fiel Deutschland im gleichen Zeitraum von 74,7 % auf 74,1 % zurück. Da in Deutschland die beruflichen Abschlüsse die Mehrheit der Sekundarstufe-II-Abschlüsse ausmachen, ist der Rückgang vor allem dem Verbleib im Übergangssystem geschuldet; die Jugendlichen wurden immer älter, bevor sie eine Ausbildung beginnen und abschließen konnten vgl. Kapitel A3.3. Bezogen auf die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen zeigt sich jedoch ein anderes Bild; hier kommt Deutschland durchaus an die EU-Benchmark von 85 % heran. Dies gilt darüber hinaus auch für die noch älteren Jahrgänge: Bereits seit einigen Jahrzehnten ist diese Quote stabil, nur bei den 55- bis 64-Jährigen liegt sie leicht darunter (81 %) (vgl. OECD 2009, S. 29). Die für Deutschland unvorteilhaften Ergebnisse für die 20- bis 24-Jährigen gelten somit nicht für das gesamte deutsche System. Der europäische Vergleich machte zudem das Problem „Übergangsystem“ deutlich. Zum anderen sollten im Jahr 2010 mindestens 12,5 % der erwachsenen Bevölkerung innerhalb der letzten 4 Wochen vor der Befragung an einer allgemeinen oder beruflichen Bildungsmaßnahme teilgenommen haben. Hinsichtlich dieses Maßstabs wurden Fortschritte erzielt, die jedoch nicht genügten, um den vorgegebenen Wert zu erreichen. Im Jahr 2008 nahmen 9,5 % der Europäer im Alter von 25 bis 64 Jahren in den letzten 4 Wochen vor der Umfrage an Bildungsmaßnahmen teil (2000 waren es 8,5 %), wobei der Anteil in der Gruppe der hoch qualifizierten Erwachsenen fünfmal höher lag als in der Gruppe der Geringqualifizierten. Deutschland konnte hier immerhin einen Anstieg von 6,0 % auf 7,9 % verzeichnen. Nur sechs Länder lagen darüber: die skandinavischen Länder und das Vereinigte Königreich. Die Benchmark bezieht sich sowohl auf allgemeine als auch auf berufliche Weiterbildung. Die Daten der europäischen Weiterbildungserhebung (CVTS 2 und CVTS 3), die sich allein auf betriebliche Weiterbildung beziehen, zeigen hingegen zwischen 1999 und 2005 eine rückläufige Beteiligung in Deutschland. Im europäischen Vergleich lag Deutschland 2005 nur im Mittelfeld (vgl. Kapitel B1.2; BIBB-Datenreport 2009, Kapitel B1.2). In ihrem Entwurf des gemeinsamen Fortschrittsberichts 2010 über die Umsetzung des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ stellen der Rat und die Kommission fest: „Trotz einer allgemeinen Verbesserung der Leistungen der Bildungs- und Berufsbildungssysteme in der EU wird die Mehrzahl der für 2010 festgelegten Benchmarks nicht erreicht werden“ (Europäische Kommission KOM [2009] 640). In Tabelle E1.1-1 ist die Entwicklung von 2000 bis 2008 für die 5 Benchmarks dargestellt.
Vor diesem Hintergrund wurde das Arbeitsprogramm für die nächste Dekade einerseits bescheidener, d. h. auch mit weniger Maßzahlen, andererseits anspruchsvoller formuliert. Das neue gemeinsame Arbeitsprogramm für die Zeit bis 2020 („Education and Training [ET] 2020“) ist in den Schlussfolgerungen des Rates vom 12. Mai 2009 zu einem strategischen Rahmen für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung niedergelegt (Rat der Europäischen Union 2009). Das Arbeitsprogramm enthält vier strategische Ziele (die alle auch die Berufsbildung betreffen), auf die sich das Monitoring von Fortschritten und die Berichterstattung konzentrieren werden
Strategisches Ziel 1: Verwirklichung von lebenslangem Lernen und Mobilität; dazu gehören Strategien für lebenslanges Lernen, Europäischer Qualifikationsrahmen, Ausweitung der Mobilität zu Lernzwecken.
Strategisches Ziel 2: Verbesserung der Qualität und der Effizienz der allgemeinen und beruflichen Bildung; dazu gehören Fremdsprachenerwerb, berufliche Entwicklung von Lehrkräften und Ausbildern, Steuerung und Finanzierung, Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften, Einschätzung des künftigen Kompetenzbedarfs und die Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts.
Strategisches Ziel 3: Förderung von Gerechtigkeit, sozialem Zusammenhalt und aktivem Bürgersinn; dazu gehören Reduktion der Zahl frühzeitiger Schulund Ausbildungsabgänger/-innen, bessere Vorschulbildung, gezielte Maßnahmen für Zuwanderer und Lernende mit besonderen Bedürfnissen.
Strategisches Ziel 4: Förderung von Innovation und Kreativität einschließlich unternehmerischen Denkens auf allen Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung; dazu gehören bereichsübergreifende Schlüsselkompetenzen, innovationsfreundliche Bildungseinrichtungen, die Nutzung von IKT. Für diese strategischen Ziele wurden Teilziele gesetzt. Sie sind nicht wie im Arbeitsprogramm 2010 mit Indikatoren belegt, bilden jedoch die Grundlage für die Fokussierung der Politik, die Beobachtung der Entwicklung und die gegenseitige Information.
Für die Ziele/Teilziele wurden 5 Benchmarks festgelegt, 3 davon waren bereits im Arbeitsprogramm 2010 enthalten: „Grundkompetenzen“, „Frühe Schulund Ausbildungsabgänger/-innen“, „Teilnahme am lebenslangen Lernen“. Neue Benchmarks sind „Teilnahme an Vorschulbildung“ und „Erwerb von tertiären Abschlüssen“ (bislang nur Indikator). Diese werden im Folgenden kurz erörtert:
1. Vorschulbildung
Steigerung der Teilnahme an der Vorschulbildung als Grundlage für späteren Bildungserfolg, insbesondere bei Kindern aus benachteiligten Verhältnissen: Bis 2020 sollten mindestens 95 % der Kinder im Alter zwischen 4 Jahren und dem gesetzlichen Einschulungsalter in den Genuss einer Vorschulbildung kommen.
2. Schüler mit schlechten Leistungen bei den Grundkompetenzen
Alle Schüler sollen ein angemessenes Niveau an Grundkompetenzen erreichen: Bis 2020 sollte der Anteil der 15-Jährigen mit schlechten Leistungen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften unter 15 % liegen (PISA-Daten). In der Agenda 2010 lautete die Benchmark „Schlechte Leseleistung nicht mehr als 20 %“. Obwohl die Leseleistungen in den letzten 10 Jahren im EU-Durchschnitt sogar gesunken sind – in Deutschland leicht gestiegen –, wurden die Ziele nun höher gesetzt.
3. Frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger/ -innen
Möglichst viele Lernende sollen ihre allgemeine und berufliche Ausbildung abschließen: Bis 2020 sollte der Anteil frühzeitiger Schul- und Ausbildungsabgänger (18- bis 24-Jährige, die nur die Sekundarstufe I besucht haben und nicht an Bildung/Ausbildung teilnehmen) weniger als 10 % betragen. Diese Benchmark ist die gleiche wie in der Agenda 2010; die EU (15 %) und auch Deutschland (12 %) haben sie bislang verfehlt.
4. Erwerb von Hochschulabschlüssen
Deckung der zunehmenden Nachfrage nach Hochschulabschlüssen bzw. gleichwertiger beruflicher Aus- und Weiterbildung: Bis 2020 sollten mindestens 40 % der 30- bis 34-Jährigen einen tertiären Abschluss besitzen. Die Benchmark heißt „Hochschulabschlüsse“, d. h., in der International Standard Classification of Education (ISCED) wäre das Niveau 5A und 6; sie wird jedoch in einer Fußnote ergänzt um „gleichwertige Aus- und Weiterbildung“ auf ISCED-Niveau 5B. Das ist insbesondere für Deutschland wichtig, denn damit verringert sich der Rückstand – auch wenn viele Fortbildungsabschlüsse erst im Alter von 35 und später erworben werden. 2008 lag Deutschland mit 27,7 % unter dem EU-Durchschnitt (31 %). In Kapitel E 2.2 wird dargelegt, warum die älteren Jahrgänge in die Betrachtung einzubeziehen sind, um den tatsächlichen Bedarf bei der jungen Generation zu bestimmen.
5. Beteiligung Erwachsener am lebenslangen Lernen
Stärkere Beteiligung von Erwachsenen, insbesondere jener mit niedrigem Ausbildungsstand, am lebenslangen Lernen. Obwohl die 2010-Benchmark von 12,5 % nicht erreicht werden konnte (EU: 9,5 %), wurde der Maßstab nun höher gelegt. Bis 2020 sollen durchschnittlich 15 % der Erwachsenen am lebenslangen Lernen teilnehmen (Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen innerhalb der letzten 4 Wochen vor Befragung). Angesichts der bislang erreichten Weiterbildungsquote (8 %) muss Deutschland – wie auch die anderen Länder – seine Anstrengungen gewaltig steigern, um das gesteckte Ziel zu erreichen.
Die Benchmarks „Frühzeitige Abgänger“, „Tertiäre Abschlüsse“, „Weiterbildungsteilnehmer“ haben unmittelbare Relevanz für die Berufsbildung. Dies gilt auch für die noch zu definierenden 3 weiteren Benchmarks zur „Mobilität“ und „Beschäftigungsfähigkeit“ (beide bis Ende 2010 zu entwickeln) sowie zum „Fremdsprachenerwerb“ (bis Ende 2012 zu entwickeln).
Die Ziele im Arbeitsprogramm 2020 sind den nationalen Zielen ziemlich ähnlich, wenngleich die EUBenchmarks in deutschen Berichtssystemen bislang eine nur untergeordnete Bedeutung haben. Im Berufsbildungsbericht wurden sie bislang ebenso wenig erwähnt, wie in den vorliegenden Bildungsberichten der Länder. Die Benchmark „Reduzierung frühzeitiger Schul- und Ausbildungsabgänger“ wird in den Zielsetzungen des nationalen Bildungsgipfels – bis 2015 – aufgegriffen und zwar als „Halbierung der Abbrecherzahlen“; Gleiches gilt für die Weiterbildungsteilnahme, die von 43 % auf 50 % der Erwerbstätigen steigen soll. Damit wird sicher ein Beitrag zur Erreichung der EU-Benchmarks geleistet. Hinsichtlich des Erwerbs von Hochschulabschlüssen gibt es Zielwerte des Wissenschaftsrates (Wissenschaftsrat 2006, S. 65): damit 35 % des Altersjahrgangs zu einem Studienabschluss geführt werden können, sollten deutlich über 40 % eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen und mindestens 50 % eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben. Diese EU-Benchmark kann, wenn überhaupt, nur mithilfe von Fortbildungs-Abschlüssen (ISCED- 5B) erreicht werden.