Die OECD stellt in ihrem Bericht „Education at a glance“ jährlich eine Reihe von Indikatoren bereit, die für internationale Vergleiche der Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen herangezogen werden können. Am Beispiel der Akademikerausbildung zeigt sich jedoch, dass durch eine unvorsichtige Indikatorwahl sowie die mangelnde Berücksichtigung nationaler institutioneller Strukturen ein unzureichendes Bild von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit entstehen kann (Müller 2009). So werden als Beleg für einen vermeintlichen Nachholbedarf Deutschlands in der Akademikerausbildung in der Regel die Absolventenquoten des tertiären Bildungssektors aus dem OECD-Bericht herausgegriffen. Im Jahr 2006 etwa haben in Deutschland lediglich 21,2 % der typischen Altersgruppe einen tertiären Ausbildungsgang abgeschlossen. Im Durchschnitt der OCED-Länder liegt dieser Wert bei 37,3 %. Allerdings sind Absolventenquoten junger Geburtenjahrgänge für sich genommen ein ungeeignetes Maß, um zu beurteilen, ob das Bildungswesen die Erfordernisse des Arbeitsmarktes erfüllen kann. Zweckmäßiger ist die Verwendung sogenannter Attainment-Quoten. Zudem können Unterschiede in den Absolventenquoten zumindest teilweise durch Besonderheiten der deutschen Berufsbildungs- und Arbeitsmarktstruktur aufgeklärt werden.
Absolventenquote vs. Attainment-Quote
Absolventenquoten messen den Zufluss und nicht den Bestand an Personen mit entsprechendem Bildungsabschluss. Sie können im OECD-Durchschnitt nach oben verzerrt sein, weil Länder, die im Begriff sind zur technologischen Schwelle aufzuschließen, eventuell vorübergehend höhere Absolventenquoten haben als Nationen, die bereits über ein hohes Durchschnittsbildungsniveau verfügen. Letztere können ihre technologische Leistungsfähigkeit und Produktivkraft gegebenenfalls auch mithilfe niedrigerer Absolventenquoten erhalten und ausbauen. Ein internationaler Vergleich von Absolventenquoten junger Geburtsjahrgänge kann daher keinen Aufschluss darüber geben, ob der Humankapitalstock das er forderliche Niveau hat oder nicht. Betrachtet man beispielsweise den Anteil der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss in bestimmten Altersgruppen, so wird deutlich, dass Deutschland bei den 45- bis 54-Jährigen sowie den 55- bis 64-Jährigen über dem OECD-Mittel liegt und bis vor 20 Jahren offensichtlich einen Vorsprung vor den anderen Ländern hatte, was den Zufluss hoch qualifizierter Arbeitskräfte betrifft. Die unterdurchschnittlichen Absolventenquoten der letzten 20 Jahre könnten also nicht nur als Rückschritt, sondern zumindest teilweise auch als Anpassungsphänomen zu werten sein. Genauen Aufschluss über die tatsächliche Höhe des Humankapitalstocks gibt der Anteil der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss an der Population im erwerbsfähigen Alter, d. h. den 25- bis 64-Jährigen. Diese sogenannte Attainment-Quote liegt in Deutschland bei 24 % gegenüber 27 % im Durchschnitt der OECD-Länder. Die Sorge, tertiär äquivalente Ausbildungsgänge oder Fortbildungsgänge blieben in der deutschen Quote unberücksichtigt, ist unbegründet, da im Rahmen des Mikrozensus der höchste erreichte Bildungsabschluss erfragt wird. Durch die ISCED-Klassifikation lässt sich der Wert somit gut international vergleichen. Es besteht also in der Tat ein Rückstand zum OECDDurchschnitt, der jedoch deutlich geringer ist als der Unterschied in den Absolventenquoten.
Der Rückstand in den tertiären Attainment-Quoten kann teilweise durch die deutsche Arbeitsmarktstruktur erklärt werden. Betrachtet man z. B. den Anteil an Arbeitsplätzen mit hohem Anforderungsprofil, so liegt Deutschland im Mittelfeld der OECDLänder. Ein vergleichsweise geringer Anteil hoch qualifizierter Arbeitsplätze ist jedoch nicht per se als negativ einzustufen. Er kann Ausdruck einer Spezialisierung der Volkswirtschaft sein, die ihre komparativen Vorteile im internationalen Wettbewerb nutzt. Ein tatsächlicher Mangel würde erst durch eine Deckungslücke zwischen Stellen mit hohen Qualifikationsanforderungen und den entsprechenden Bildungsabschlüssen indiziert. Schaubild E2.2-1 vergleicht die Anzahl der hoch qualifizierten Arbeitsplätze (gegeben durch die Stufen 1 bis 3 der internationalen Standardklassifikation der Berufe, ISCO-88) pro Kopf der Bevölkerung zwischen 25 und 64 mit den tertiären Attainment-Quoten in der gleichen Personengruppe. Grundsätzlich weisen Länder mit einem höheren Anteil qualifizierter Arbeitsplätze auch höhere tertiäre Attainment-Quoten auf. Das Säulendiagramm legt nahe, dass die Anzahl an Personen mit tertiärem Bildungsabschluss in den meisten Ländern die Anzahl an Stellen der ISCOStufen 1 bis 3 übersteigt. Ein gewisses Überangebot ist womöglich wegen der Reibungsverluste beim Job- Matching notwendig. Vor allem aber fällt auf, dass die Varianz der Attainment-Quoten deutlich höher ist als die Varianz der hoch qualifizierten Arbeitsverhältnisse. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Länder durchaus Spielraum in der Wahl ihrer Bildungsstrategien besitzen, um die Anforderungen des Beschäftigungssystems zu erfüllen.
Dass in Deutschland der Überschuss geringer ist als in anderen Ländern, kann vermutlich damit erklärt werden, dass das deutsche Bildungssystem entsprechend ausgebildetes Personal auch durch berufspraktische Ausbildungsgänge zur Verfügung stellt. Wäre die Zahl der Akademiker zu gering, um die Besetzung hoch qualifizierter Positionen zu gewährleisten, so wäre zu erwarten, dass mit im Vergleich zu anderen Ländern höherer Wahrscheinlichkeit solche Positionen auch tatsächlich von tertiär gebildeten Arbeitnehmern besetzt sind. Der Anteil an Erwerbstätigen mit einem theoretisch orientierten tertiären Bildungsabschluss (ISCED-Stufe 5A) in hoch qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen ist zwar überdurchschnittlich (89 % im Vergleich zu 85 % im OECD-Mittel), allerdings nicht so hoch, dass er zwingend einen Akademikernotstand implizieren würde. Zudem fällt es Personen mit einem berufspraktischen tertiären Bildungsabschluss (ISCED-Stufe 5B) in Deutschland außergewöhnlich schwer, eine entsprechende Stelle zu bekommen. Nur 59 % der Erwerbsbevölkerung mit einem solchen Abschluss – im Vergleich zu 69 % im OECD-Mittel – besetzt einen Arbeitsplatz mit hohen Anforderungen. Vergleichbar niedrige Werte weisen ansonsten vor allem Länder mit hohem Akademikerüberschuss und damit hoher Konkurrenz auf, wie etwa Dänemark (61 %), Kanada (48 %), Irland (50 %) oder Spanien (37 %) (vgl. Schaubild E2.2-1) Dies deutet auf eine starke Konkurrenz durch die Absolventinnen und Absolventen niedriger angesiedelter Bildungsgänge hin. Ein solcher Wettbewerbsdruck in Deutschland könnte z. B. durch den starken postsekundären Bereich verursacht werden, für welchen die Attainment-Quote mit 7 % über dem internationalen Durchschnitt liegt. Dieser Bereich erfasst z. B. Abiturientinnen und Abiturienten mit Berufsausbildung, die möglicherweise zu einem großen Teil auch für Stellen mit hohem Anforderungsprofil infrage kommen. Auch eine im internationalen Vergleich höhere Ausbildungsqualität im sekundären und postsekundären Bereich in Deutschland könnte zur Erklärung dieses Phänomens beitragen.
Natürlich sollten mit Blick auf die zukünftige Entwicklung auch die Absolventenquoten im Auge behalten werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die OECD, anders als bei den Attainment-Quoten, nur diejenigen Absolventen/Absolventinnen in die Quotenberechnung einbezieht, die für den entsprechenden Bildungsgang an einer entsprechenden Bildungseinrichtung eingeschrieben waren. Da dies bei Absolventen/Absolventinnen von tertiär-äquivalenten Fortbildungsgängen wie dem Meister/der Meisterin oder Fachwirt/der Fachwirtin bzw. anderen Fortbildungsgängen nach § 53 BBiG in der Regel nicht der Fall ist, wird der beschriebene Rückstand in den deutschen Absolventenquoten relativiert, vorausgesetzt dass vergleichbare Untererfassungen im Ausland weniger bedeutsam sind.
Im Jahr 2006 schlossen circa 265.000 Studentinnen und Studenten ihr Erststudium an einer deutschen Hochschule ab. Gleichzeitig bestanden circa 17.700 Personen eine Fachwirtprüfung bei den nach § 71 BBiG zuständigen Stellen. Etwa 8.900 Personen legten erfolgreich eine Meisterprüfung zum Industrie- oder Fachmeister ab, außerdem wurden 21.100 Handwerksmeister ausgebildet. Weitere 30.200 Personen bestanden sonstige kaufmännische Fortbildungsprüfungen (Fachkaufleute, Betriebswirte, Fachkräfte etc.) und circa 14.000 Personen sonstige gewerblich-technische Fortbildungsprüfungen. Hinzu kommen 4.500 Fortbildungsprüfungen, die durch diese Systematik noch nicht erfasst sind (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Wird vereinfachend die gleiche relevante Altersgruppe wie für die Hochschulabsolventinnen und -absolventen zugrunde gelegt, so erhöht sich die Quote im tertiären Bereich um circa 4 bis 8 Prozentpunkte. Während die Untergrenze lediglich bestandene Meister- und Fachwirtprüfungen umfasst, beinhaltet die Obergrenze alle Fortbildungsprüfungen bei einer zuständigen Stelle im Sinne des § 71 BBiG (so z. B. Fachkaufleute, Betriebswirte, Fachkräfte für Datenverarbeitung/Schreibtechnik/Fremdsprachen sowie sonstige kaufmännische oder gewerblich-technische Fortbildungsprüfungen). Es ist anzunehmen, dass eine zweckmäßige Annäherung des Effektes sich zwischen beiden Werten – möglicherweise eher in der Nähe der Untergrenze – befindet. Eine entsprechend korrigierte Absolventenquote würde zwischen 36 % und 40 % liegen. Der Effekt verringert sich allerdings, soweit die entsprechenden Prüflinge bereits über das formale tertiäre Bildungssystem erfasst sind, entweder weil sie zur Prüfungsvorbereitung an beruflichen Schulen eingeschrieben sind oder weil sie zusätzlich einen tertiären Bildungsgang (z. B. Fachhochschulstudium) absolvieren.
(Normann Müller)