B3.6 Tarifvertraglich geregelte Finanzierung der beruflichen Weiterbildung
Die derzeit jüngste tarifliche Fondsregelung zur Finanzierung beruflicher Weiterbildung vereinbarte die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie mit dem Zeitarbeitsunternehmen USG People Germany im Dezember 2011. Auf der Grundlage dieses Haustarifvertrags wurde im letzten Jahr der Verein Weiterbildungsfonds Zeitarbeit e. V. gegründet. In den Fonds werden insgesamt 2 % der Bruttolohnsumme eingezahlt; daran beteiligen sich das Zeitarbeitsunternehmen mit 0,8 %, die Entleihbetriebe mit 0,8 % und die Zeitarbeitsbeschäftigten mit 0,4 %. Über diesen Tariffonds wird die berufliche Weiterbildung für Leiharbeitnehmer/-innen erstmals finanziell abgesichert. Dieser Haustarifvertrag folgt damit einer Empfehlung der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Jahr 2001 eingesetzten Expertenkommission „Finanzierung lebenslangen Lernens“. Die Kommission schlug „angesichts der hohen Arbeitsmarktrisiken von Leiharbeitnehmern (…) die Einrichtung von Branchenfonds vor, um die Lernchancen im expandierenden Zeitarbeitsmarkt zu verbessern“ (Expertenkommission Finanzierung lebenslangen Lernens 2004, S. 235).
Die Kommission verweist hierbei u. a. auf die Einrichtung tariflicher Weiterbildungsfonds in der Leiharbeitsbranche der Niederlande. In den Niederlanden existieren tarifliche Branchenfonds zur Weiterbildungsfinanzierung, jedoch nicht nur in der Leiharbeitsbranche, sondern wurden spätestens seit den 1980er-Jahren in einer Vielzahl von Branchen eingerichtet. Mitte 2007 gab es in den Niederlanden 140 Aus- und Weiterbildungsfonds (O&O Fonds) in 116 Wirtschaftszweigen. 86 % der 6,9 Mio. Arbeitnehmer/- innen in den Niederlanden fallen unter diesen O&O Fonds (Donker van Heel u. a. 2008, S. 10). Im Gegensatz dazu hält die Mehrzahl der Qualifizierungstarifverträge in Deutschland am Prinzip der einzelbetrieblichen Weiterbildungsfinanzierung fest (vgl. BIBB-Datenreport 2012, Kapitel B3.6). Nur wenige Tarifverträge beteiligen über ein Fondssystem alle Betriebe des Tarifbereichs an der Weiterbildungsfinanzierung und begreifen damit die Qualifizierung von Fachkräften nicht mehr als einzelbetriebliches Problem, sondern als Herausforderung für die gesamte Branche (Berger/Moraal 2012).
Tariffonds zur Weiterbildungsfinanzierung
Der zentrale Ansatz eines tariflichen Branchenfonds zur Finanzierung betrieblicher Weiterbildung beruht auf der Entkopplung der betrieblichen Weiterbildungsentscheidung von der betrieblichen Weiterbildungsfinanzierung. So zahlen alle Betriebe, die einem solchen Tarifvertrag unterliegen, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Bruttolohnsumme oder einen festen Beitrag pro Beschäftigten in einen meist von beiden Tarifparteien paritätisch verwalteten Fonds ein Tabelle B3.6-1. Aus diesem Fonds können Betriebe, die in die Weiterbildung ihrer Beschäftigten investieren, ihre Kosten refinanzieren.
Bahnmüller (2009) hebt 3 Vorteile der tariflichen Fondsfinanzierung hervor. So ermöglichen Tariffonds eine Weiterbildungsfinanzierung, unabhängig von konjunkturellen Schwankungen und der aktuellen wirtschaftlichen Lage eines Betriebes. Einschränkend gilt jedoch, dass die Beitragszahlung an die Beschäftigtenzahlen in der jeweiligen Branche gekoppelt ist und die Höhe der zur Verfügung stehenden Fondsmittel somit auch von der aktuellen Wirtschaftslage abhängt. Durch die paritätische Beteiligung von Arbeitgebern und Gewerkschaften orientieren sich Finanzierungsentscheidungen weniger an betrieblichen Einzelinteressen, sondern mehr am Bedarf der gesamten Branche. In eher klein- und mittelbetrieblich geprägten Branchen entlasten Tariffonds gerade kleinere Einzelbetriebe nicht nur finanziell, sondern auch bei der Organisation von Weiterbildungsmaßnahmen.
Tariffonds beruhen auf „Kompensationstarifverträgen“ in eher kleinen Branchen
Trotz der hier genannten Vorteile stimmen die Arbeitgeberverbände einer Fondslösung zur Weiterbildungsfinanzierung oft erst dann zu, wenn die Gewerkschaften ihrerseits auf andere Forderungen verzichten. Insofern handelt es sich bei diesen Qualifizierungstarifverträgen immer um sogenannte „Kompensationstarifverträge“, da der Finanzierungsbeitrag der Arbeitgeber meist durch Verzicht der Arbeitnehmer kompensiert wird. Beim Tariffonds der Textil- und Bekleidungsindustrie nahmen diese z. B. eine geringere Steigerung ihres Urlaubsgeldes in Kauf.
Bisher einigten sich die Tarifparteien vorrangig kleinerer Branchen mit meist klein- und mittelbetrieblicher Struktur auf die Einrichtung eines überbetrieblichen Tariffonds zur Weiterbildungsfinanzierung. Entsprechend fallen derzeit auch nur knapp 100.000 Arbeitnehmer/-innen in den Geltungsbereich eines Tariffonds. Das derzeit für Weiterbildung über Tariffonds verwaltete Mittelvolumen lässt sich dabei nicht genau beziffern, da nicht nur für Weiterbildung die Fonds, sondern auch für Ausbildung, Altersvorsorge und Gesundheitsförderung der Arbeitnehmer/ -innen Mittel bereitstellen. Im Kalenderjahr 2011 bzw. 2012 standen zur Finanzierung der beruflichen Weiterbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern tarifliche Fondsmittel in Höhe von ca. 4,3 Mio. € zur Verfügung. Hiervon wurden in den betreffenden Branchen knapp 3,8 Mio. € zur Finanzierung der Weiterbildungsteilnahme der Beschäftigen ausgezahlt.
Tarifliche Fonds zur Finanzierung der Weiterbildungsteilnahme bestehen derzeit in den folgenden Branchen:
Textil- und Bekleidungsindustrie
Im Wirtschaftsbereich Textil- und Bekleidung haben sich die Tarifparteien von 3 kleinen Branchen auf überbetriebliche Fondslösungen zur Weiterbildungsfinanzierung geeinigt. Zu Beginn des Jahres 2012 trat die neu verhandelte Tarifvereinbarung zur überbetrieblichen Fondsfinanzierung der Weiterbildung in der Miederindustrie in Kraft. Erstmals wurde dieser Tariffonds im Jahr 1963 ausgehandelt und seitdem immer wieder verlängert. In der aktuellen Vereinbarung verpflichten sich die Arbeitgeber, 3,4 % der Bruttolohn- und Gehaltssumme in einen Fonds zur Altersversorgung, Bildung und Gesundheitsförderung der Arbeitnehmer/-innen einzuzahlen.
In der Branche Textil Service trat im Jahr 2009 ein Tarifvertrag in Kraft, bei dem der Industrieverband Textil Service – intex – e. V. und die IG Metall übereinkamen, „die Aus-, Fort-, Weiterbildung, den präventiven Gesundheitsschutz sowie die Altersversorgung der Beschäftigten zu fördern“. Die intex- Mitgliedsbetriebe verpflichten sich zu diesem Zweck, jährlich 35 € je Beschäftigten an einen Verein zur Verwaltung des Tariffonds abzuführen.
Im Jahr 1997 vereinbarten die Tarifparteien der Textil- und der Bekleidungsindustrie den Tarifvertrag zur Förderung von Aus-, Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten in diesem Industriezweig. Zentrale Elemente dieses Tarifvertrags waren die Regelung eines individuellen Weiterbildungsanspruchs für die Beschäftigten bei gleichzeitiger Begrenzung des jährlichen Anspruchs auf maximal 2 % der Belegschaft und die Einführung eines paritätisch verwalteten Bildungsfonds. Die Fondsmittel stehen jeweils zur Hälfte für arbeitgeberseitig und für arbeitnehmerseitig veranlasste Weiterbildung zur Verfügung.
Land- und Forstwirtschaft
Mitte der 1990er-Jahre vereinbarten die für Landund Forstwirtschaft zuständigen Tarifparteien einen tariflichen „Qualifizierungsfonds“ für das ostdeutsche Tarifgebiet. Die Besonderheit dieses Fonds bestand darin, dass über ihn Qualifizierungsmaßnahmen gefördert wurden, die sich auch an ehemalige Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft richteten, die eine Wiederaufnahme der land- und forstwirtschaftlichen Tätigkeit anstrebten. Mit Datum vom 10. November 2006 wurde der Qualifizierungsfonds der Land- und Forstwirtschaft e. V. (QLF) schließlich liquidiert. Die Modalitäten des eingestellten Tariffonds waren im Jahr 2001 Vorbild für die Errichtung von Qualifizierungsfonds, die die Tarifparteien der Forstwirtschaft in Niedersachsen und der Land- und Forstwirtschaft in Schleswig-Holstein sowie in Hessen vereinbarten.
Gerüstbaugewerbe
Den finanziell bedeutendsten Tariffonds mit langer Tradition stellt die Sozialkasse im Gerüstbaugewerbe (Berger/Häusele/Moraal 2012). Die Tarifvertragsparteien des Gerüstbaugewerbes vereinbarten dieses tarifliche Fondsmodell im Jahr 1981. Aus dieser Sozialkasse werden die tarifvertraglich geregelten Sozialleistungen einschließlich der Kosten für die berufliche Aus- und Weiterbildung finanziert. Förderfähig sind nach Tarifvertrag dieser Branche nur die Fortbildungslehrgänge zum geprüften Gerüstbau- Kolonnenführer, zur Vorbereitung auf die Ausbildereignungsprüfung und zur Abschlussprüfung Gerüstbauer/ Gerüstbauerin gemäß § 45 Abs. 2 BBiG. Die Teilnahmen an diesen Lehrgängen wurden im Jahr 2011 mit 1,8 Mio. € aus der Sozialkasse bezuschusst.
Die Tabelle B3.6-1 verdeutlicht, dass die für Weiterbildung zur Verfügung stehenden Fondsmittel oft nur zum Teil ausgeschöpft werden. Die Nutzung der Fonds könnte möglicherweise durch eine stärkere aufsuchende Betriebsberatung durch die fondsverwaltenden Stellen gefördert werden. Die Tabelle zeigt ferner, dass die Nutzung der hier aufgeführten Tariffonds weder im Gerüstbau noch bei den Fonds der Textilbranchen auf die alleinige Weiterbildungsfinanzierung fokussiert ist. Sie dient teilweise ebenso der Ausbildungsfinanzierung wie auch der Förderung anderer tariflich festgelegter Sozialleistungen. In diesem Zusammenhang ist auch der im Jahr 2008 in der chemischen Industrie aufgelegte Demografiefonds zu erwähnen. Er dient jedoch in erster Linie der Schaffung alters- und leistungsgerechter Arbeitsbedingungen und flexibler Übergänge in den Ruhestand. In der Verbindung mit Langzeitkonten ist allerdings auch hier eine Fondsnutzung für Qualifizierungszwecke möglich. Das Beispiel des Demografietarifvertrags in der chemischen Industrie zeigt, dass derartige tarifliche Fondsmodelle zur Berufsbildungsfinanzierung nicht auf kleine Branchen begrenzt bleiben müssen.
(Klaus Berger, Daniela Decker, Dick Moraal)
Tabelle B3.6-1: Tarifliche Branchenfonds zur Weiterbildungsfinanzierung für das Jahr 2012a