A8.2 Determinanten von Ausbildungslosigkeit und typische bildungsbiografische Verläufe von Jugendlichen ohne Berufsausbildung
Wie hoch die Quote der Jugendlichen ohne Berufsausbildung ist und wie sich diese Personengruppe nach wichtigen soziodemografischen Merkmalen wie Geschlecht, Schulabschluss und Migrationshintergrund verteilt, kann am verlässlichsten auf Basis des Mikrozensus ermittelt werden vgl. Kapitel A8.1. Daraus geht allerdings nicht hervor, welche Faktoren Ausbildungslosigkeit determinieren und welche Rolle insbesondere der familiäre Hintergrund der Jugendlichen sowie ihre Bildungsbiografie nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule spielen. Dazu liegen jedoch detaillierte Informationen aus einer repräsentativen Erhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung vor (BIBB-Übergangsstudie 2006). Auf dieser Datengrundlage konnten die Ursachen für fehlende Berufsabschlüsse Jugendlicher analysiert werden (vgl. Beicht/Ulrich 2008). Untersucht wurde auch, welches die typischen bildungsbiografischen Verläufe von ungelernten jungen Erwachsenen sind. Einbezogen wurden in die Analysen ausschließlich nicht studienberechtigte Personen.209
E BIBB-Übergangsstudie
Bei der BIBB-Übergangsstudie 2006 handelt es sich um eine im Sommer 2006 durchgeführte repräsentative Befragung von 7.230 Personen der Geburtsjahrgänge 1982 bis 1988. In computergestützten Telefoninterviews gaben die Jugendlichen retrospektiv Auskunft über ihre gesamte Bildungs- und Berufsbiografie (vgl. Beicht/Friedrich/Ulrich 2007, 2008).
Bei den hier vorgestellten Analyseergebnissen wurden die Angaben von 2.595 Jugendlichen zugrunde gelegt, die zum Befragungszeitpunkt 20 bis 24 Jahre alt waren und die bei Verlassen der allgemeinbildenden Schule maximal über einen mittleren Abschluss verfügten. Sie werden hier vereinfachend als „nicht studienberechtigte Jugendliche“ bezeichnet.
Es wurde eine mit den Mikrozensus-Auswertungen vergleichbare Definition von Ausbildungslosigkeit zugrunde gelegt. Als „ungelernt“ gelten danach ausschließlich Personen ohne Berufsabschluss, die im Befragungsmonat einer Erwerbstätigkeit nachgingen, arbeitslos bzw. arbeitssuchend waren, an einer Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit (z. B. Berufsvorbereitungsmaßnahme, Ein-Euro-Job) teilnahmen, ein betriebliches Praktikum (einschließlich einer Einstiegsqualifizierung) absolvierten, einen Ausbildungsplatz suchten oder sich aus privaten Gründen (z. B. Kinderbetreuung, Krankheit) zu Hause befanden. Personen, die eine allgemeinbildende oder berufliche Schule besuchten, in einer Ausbildung waren oder studierten, an einer beruflichen Fort- oder Weiterbildung teilnahmen oder den Wehr- bzw. Zivildienst ableisteten, zählen demnach nicht zu den Ungelernten.
Einflussfaktoren auf das Risiko der Ausbildungslosigkeit
In die durchgeführten Analysen wurden insgesamt 15 verschiedene persönliche Merkmale bzw. biografische oder sonstige Aspekte einbezogen, von denen angenommen wurde, dass sie die Gefahr dauerhafter Ausbildungslosigkeit erhöhen oder vermindern könnten.210 Für viele dieser Merkmale bzw. Aspekte konnte im Rahmen eines statistischen Erklärungsmodells (logistische Regression) nachgewiesen werden, dass sie – unter Kontrolle der jeweils anderen Einflussgrößen – einen signifikanten eigenständigen Effekt hatten.211 Neben den schulischen Bildungsvoraussetzungen der Jugendlichen, dem Bildungs- und Berufsstatus der Eltern sowie einigen weiteren soziodemografischen Merkmalen sind es vor allem bestimmte bildungsbiografische Verläufe, die das Risiko der Ausbildungslosigkeit deutlich beeinflussen. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt beschreiben:
- Die Wahrscheinlichkeit, ohne Berufsabschluss zu bleiben, vergrößert sich für Jugendliche, wenn ihre schulischen Bildungsvoraussetzungen ungünstig sind. Dabei wirkt sich nicht nur ein fehlender oder niedriger Schulabschluss (Sonderschule, Hauptschule) negativ aus, sondern auch schlechte Noten auf dem Schulabgangszeugnis, und zwar unabhängig vom Schulabschlussniveau.
- Die Bildung der Eltern hat einen deutlichen Einfluss: Verfügen Vater und Mutter sowohl über einen Schul- als auch einen Berufsabschluss, bleiben Jugendliche seltener ungelernt. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass gut gebildete Eltern ihre Kinder nicht nur in der Schule, sondern später auch bei Berufswahl, Ausbildungsplatzsuche und Durchführung der Ausbildung besser unterstützen können.
- Im Vergleich zu einheimischen Jugendlichen wächst für junge Menschen mit Migrationshintergrund die Gefahr, keinen Ausbildungsabschluss zu erreichen, wenn sie erst im Alter ab 6 Jahren nach Deutschland kamen und mit meist nur geringen Kenntnissen der deutschen Sprache in das deutsche Schulsystem einmündeten. Bei den in Deutschland geborenen bzw. bereits vor dem 6. Lebensjahr in Deutschland lebenden Jugendlichen geht dagegen von dem Migrationshintergrund – bei Kontrolle der anderen Einflussfaktoren – kein signifikant erhöhtes Risiko aus.212
- Für junge Frauen besteht unter Kontrolle der anderen Einflussgrößen eine geringere Wahrscheinlichkeit der Ausbildungslosigkeit als für junge Männer. Offenbar verfolgen junge Frauen das Ziel, einen Berufsabschluss zu erwerben, noch intensiver als junge Männer und lassen sich durch auftretende Schwierigkeiten seltener entmutigen.
- Haben junge Frauen jedoch bereits ein eigenes Kind zu betreuen, bleiben sie besonders oft ungelernt. Eine Berufsausbildung erfordert einen hohen Zeitaufwand und ist kaum realisierbar, wenn – was häufig der Fall ist – keine ausreichenden externen Betreuungsmöglichkeiten für das Kind zur Verfügung stehen.
- Jugendliche aus Regionen mit hoher oder mittlerer Siedlungsdichte bleiben häufiger ausbildungslos als Jugendliche, die in eher schwach besiedelten Gebieten leben. Ein Grund hierfür dürfte darin liegen, dass mit zunehmendem Verstädterungsgrad der Regionen die Einmündung in eine Berufsausbildung für Ausbildungsplatzbewerber und -bewerberinnen schwieriger wird (vgl. Beicht/Friedrich/Ulrich 2008). Zwar gibt es in Ballungsräumen mehr Ausbildungsstellen als auf dem Land, doch werden diese auch sehr oft mit leistungsstarken Schulabsolventen und -absolventinnen aus dem Umland besetzt, was die Ausbildungsplatzchancen der Jugendlichen aus den Großstädten erheblich mindert.
Von großer Bedeutung sind die Weichenstellungen nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule:
- Jugendliche, die bei Schulende keinen weiteren Bildungswunsch haben, münden häufiger auch längerfristig nicht in eine Ausbildung ein und sind deshalb sehr gefährdet, ohne Berufsabschluss zu bleiben.
- Jugendliche, die sich 3 Monate nach Beendigung der Schule nicht wieder im Bildungssystem befinden, sind stark von Ausbildungslosigkeit bedroht. Wer erst einmal zu Hause geblieben ist, dem fällt der Wechsel in eine Berufsausbildung offenbar besonders schwer, da nicht nur die Chancen auf einen Ausbildungsplatz immer weiter sinken, sondern oftmals auch die Resignation zunimmt. In ähnlicher Weise gilt dies auch für Jugendliche, die nach der Schule eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben.
- Mit der Teilnahme an Maßnahmen des Übergangssystems213 ist ebenfalls ein erhöhtes Risiko der Ausbildungslosigkeit verbunden. Besonders häufig nehmen Jugendliche, die über schlechte schulische Voraussetzungen verfügen, an solchen Maßnahmen teil. Hierdurch können ihre Nachteile in Bezug auf die Chance, einen Ausbildungsplatz zu erhalten und eine Ausbildung erfolgreich zu durchlaufen, jedoch nicht immer ausgeglichen werden.214 Zudem ist in diesem Zusammenhang mit Selbstselektionsprozessen zu rechnen: Nach vielen Misserfolgserfahrungen in der Schule und bei der Ausbildungsplatzsuche kann auch die Teilnahme(notwendigkeit) an einer Übergangsmaßnahme als weiterer Misserfolg aufgefasst werden. Infolgedessen antizipieren diese Jugendlichen immer stärker die Chancenlosigkeit ihrer Bemühungen um einen Ausbildungsplatz und stellen die Suche schließlich ganz ein. Zudem besteht die Gefahr, dass der wiederholte Besuch von Übergangsmaßnahmen auch von anderen als Erfolglosigkeit interpretiert und so für die Jugendlichen zum Stigma wird.
- Der Abbruch einer Berufsausbildung führt sehr häufig dazu, dass Jugendliche ungelernt bleiben. Oft fehlt es an Möglichkeiten, die abgebrochene Berufsausbildung in einem anderen Betrieb bzw. einer anderen Ausbildungsstätte fortzuführen. Allerdings strebt ein Teil der Jugendlichen dies auch nicht an, z. B. wenn der Beruf ihnen nicht zugesagt oder sich die Ausbildung als zu schwierig herausgestellt hat. Insbesondere wenn der Abbruch erst sehr spät erfolgt, gelingt die Aufnahme einer weiteren Ausbildung vielfach nicht mehr.
- Zum Teil nehmen Jugendliche ohne Berufsabschluss nach einer Phase der Erwerbstätigkeit, der Arbeitslosigkeit oder des Zuhausebleibens aus privaten Gründen doch noch – oder doch wieder – eine Ausbildung auf. In diesen Fällen kommt es zwar erst mit deutlicher Verzögerung zu einem Ausbildungsabschluss. Doch geht somit die Ungelerntenquote mit zunehmendem Alter der Jugendlichen etwas zurück.
- Für Jugendliche, die nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule – meist mit mittlerem Abschluss und gutem Notendurchschnitt – die Fachoberschule oder ein Fachgymnasium besuchen,215 wurde ebenfalls eine erhöhte Wahrscheinlichkeit festgestellt, im Alter von 20 bis 24 Jahren noch ohne Ausbildung zu sein. Dieses zunächst überraschende Ergebnis bedeutet jedoch keinesfalls, dass der Besuch der Fachoberschule oder des Fachgymnasiums die Chancen auf einen Berufsabschluss auch auf längere Sicht vermindert, sondern ist vielmehr auf die angewandte Definition von „Ausbildungslosigkeit“ zurückzuführen. Die Fachoberschule oder das Fachgymnasium wird in der Regel erst im Alter von 18 oder 19 Jahren beendet. Junge Männer müssen im Anschluss daran häufig erst einmal den Wehr- bzw. Zivildienst ableisten. Daher befanden sich relativ viele zum Befragungszeitpunkt im Sommer 2006 auf der Suche nach einer Ausbildung bzw. warteten auf deren Beginn; ihre Berufsausbildung konnte somit überhaupt noch nicht begonnen haben. Definitionsgemäß zählten sie jedoch zu den noch ausbildungslosen Jugendlichen.216
Typische bildungsbiografische Verläufe von ausbildungslosen Jugendlichen
Für die Jugendlichen ohne Ausbildung, die bei Verlassen der allgemeinbildenden Schule maximal einen mittleren Abschluss erreicht hatten, soll im Folgenden der Werdegang nach Schulende genauer betrachtet werden. Wie aus Schaubild A8.2-1 hervorgeht, hat mehr als ein Drittel einmal eine Berufsausbildung begonnen, diese aber abgebrochen bzw. nicht abgeschlossen. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um eine betriebliche, relativ oft jedoch auch um eine nicht betriebliche oder schulische Ausbildung.
Fast zwei Drittel der ausbildungslosen Jugendlichen sind noch nie in eine Berufsausbildung eingemündet, obwohl die meisten von ihnen nach Beendigung der Schule oder später einen Ausbildungsplatz suchten. Viele zogen dabei nicht nur eine betriebliche, sondern auch eine schulische Ausbildung in Betracht. Insgesamt ein Zehntel der ungelernten Jugendlichen hat allerdings (noch) niemals nach einer Ausbildungs stelle gesucht. Ein relativ häufiger Grund hierfür ist der Besuch einer Fachoberschule oder eines Fachgymnasiums im unmittelbaren Anschluss an die allgemeinbildende Schule.
Im Rahmen einer Sequenzmusteranalyse wurden typische bildungsbiografische Verläufe der Jugendlichen ohne Berufsausbildung identifiziert.217 Eine ausführliche Darstellung des Verfahrens der Sequenzmusteranalyse ist enthalten in Beicht/Friedrich/Ulrich (2008), die Ergebnisse sind genauer beschrieben in Beicht/Ulrich (2008). Hierzu wurde für jeden Monat nach Verlassen der allgemeinbildenden Schule ermittelt, in welchem Status sich die Einzelnen gerade befanden. Betrachtet wurde ein Zeitraum von 3 Jahren. Unterschieden wurden dabei folgende 6 Verbleibsformen:
- vollqualifizierende Berufsausbildung,
- Fachoberschule, Fachgymnasium, allgemeinbildende Schule, Studium, Fortbildung,
- Maßnahmen des Übergangssystems,
- Erwerbstätigkeit, Jobben, Wehr- bzw. Zivildienst, freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr,
- Suchen nach/Warten auf eine Bildungsmöglichkeit,
- arbeitslos, Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit (z. B. Ein-Euro-Job, Trainingsmaßnahme), aus privaten Gründen zu Hause, Sonstiges.
Es ergaben sich 4 Gruppen von ausbildungslosen Jugendlichen, die jeweils sehr ähnliche Verlaufsmuster aufwiesen. Diese werden nachfolgend kurz beschrieben:218
Schaubild A8.2-1: Verteilung der nicht studienberechtigten Jugendlichen ohne Berufsausbildung im Alter von 20 bis 24 Jahren nach nicht begonnener bzw. nicht abgeschlossener Ausbildung
* Einschließlich Beamtenausbildung
Quelle: BIBB-Übergangsstudie 2006, Basis: Personen der Geburtsjahrgänge 1982 bis 1986, die die allgemeinbildende Schule mit maximal mittlerem Schulabschluss verlassen haben
Zusammenfassung
Ein erhebliches Risiko, ohne Ausbildung zu bleiben, besteht für Jugendliche mit ungünstigen schulischen und familiären Bildungsvoraussetzungen. Auch junge Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere wenn sie erst nach dem 6. Lebensjahr nach Deutschland kamen, sind gefährdet, ebenso wie junge Frauen, die bereits ein eigenes Kind zu betreuen haben. Von hoher Bedeutung sind zudem die bildungsbiografischen Verläufe in den ersten Jahren nach Beendigung der allgemeinbildenden Schule. In den allermeisten Fällen haben auch die ungelernten Jugendlichen ursprünglich eine Berufsausbildung angestrebt, waren jedoch meist ohne Erfolg bei der Ausbildungsplatzsuche. Nur wenige hatten nie einen Ausbildungswunsch – diese Jugendlichen rechneten sich wahrscheinlich häufig aufgrund ihrer schlechten schulischen Voraussetzungen von vornherein keine Chancen auf einen Ausbildungsplatz aus. Jugendliche, die mehrere Jahre in Maßnahmen des Übergangssystems verharrten oder längere Zeit erwerbstätig waren bzw. zu Hause blieben, gelang die Aufnahme einer Ausbildung sehr häufig nicht mehr. Ein Teil der ungelernten Jugendlichen hatte zwar die Einmündung in eine Berufsausbildung irgendwann einmal geschafft. Oft wurde diese aber zu einem relativ späten Zeitpunkt wieder abgebrochen und danach keine neue Ausbildung mehr begonnen.
(Ursula Beicht, Joachim Gerd Ulrich)